Der Weg der Additiven Fertigung zu industrieller Reife
Um komplexe Gebilde zu verstehen, sind Perspektivenwechsel das A und O. Beim Design einzelner AM-Bauteile genügt das Rotieren des Entwurfs am Bildschirm. Beim Aufsetzen stabiler industrieller AM-Prozessketten ist die Sache schwieriger. Damit alle beteiligten Akteure zu einem gemeinsamen Prozessverständnis kommen, müssen diese Akteure ins Gespräch kommen, ihre Erfahrungen und Perspektiven austauschen und Probleme offen artikulieren. Je häufiger das geschieht, desto schneller wird Additive Manufacturing zu industrieller Reife finden. Anwender warten darauf. Denn der Trend geht schon jetzt klar zur Serienanwendung.
Rainer Gebhardt
Projektleiter der Arbeitsgemeinschaft Additive Manufacturing (AG AM) im Maschinenbauverband VDMA
„Die Vielfalt unserer Mitgliedsunternehmen ist von großem Wert. Ziel ist die Integration von Additive Manufacturing in die Smart Factory.“
In einer aktuellen Umfrage hat die Arbeitsgemeinschaft Additive Manufacturing (AG AM) im VDMA ihre Mitglieder gefragt, wofür sie additiv gefertigte Bauteile einsetzen. Ergebnis: In allen Bereichen – also bei Anwendern, Dienstleistern, AM-Anlagenbauern und in Forschungsinstituten – machen Prototypen kaum noch ein Viertel der Einsätze aus. Drei Viertel entfallen zu jeweils vergleichbaren Anteilen auf additiv gefertigte Werkzeuge, Ersatzteile und Serienprodukte.
Das Ergebnis bestätigt, dass AM über seine Ursprünge im Rapid Prototyping hinausgewachsen ist. Passend dazu sehen die AG-Mitgliedsfirmen in der Prozessstabilität, den Kosten und der Standardisierung die brennendsten Themen ihrer Branche. Und noch ein dritter Befund der Befragung spricht für die zunehmende Reife der AM-Branche. Fast die Hälfte der befragten Anwender und Dienstleister gibt an, dass der Wert ihrer internen AM-Produktion und ihrer externen Zukäufe den sechs- und siebenstelligen Bereich erreicht hat.
Auswertung der Frage an Unternehmen, wo sie in den kommenden zwölf Monaten voraussichtlich den größten Teil AM-Bauteile einsetzen werden.
Breites Anwendungsspektrum ist vertreten
Die Resultate beruhen auf 90 Rückmeldungen aus dem Kreis der 150 Mitgliedsfirmen. Da diese zu einem Gutteil Pioniere der industriellen AM-Anwendung sind, ist die Umfrage nur bedingt repräsentativ. Doch dafür ist in der AG AM das ganze Spektrum der Akteure entlang der AM-Prozesskette vertreten. Industrielle Anwender, Fertigungsdienstleister, AM-Anlagenbauer und ihre Zulieferer arbeiten mit Materialherstellern, Automatisierungs- und Softwarespezialisten und Forschungsinstituten zusammen.
Ähnlich breit ist das Branchenspektrum, das sie bedienen. So betätigen sich über 120 Firmen im allgemeinen Maschinenbau. Je über 80 haben Kunden im Werkzeugmaschinenbau, der Verfahrenstechnik und Automotive-Sektor. Zu den wichtigen Zielmärkten zählen überdies die Luft- und Raumfahrt (70), Medizintechnik (60) und Elektronikindustrie (50). „Und damit sind nur die wichtigsten Branchen genannt“, erklärt VDMA-Projektleiter Rainer Gebhardt. Analog zum breiten Branchenmix decken die Mitglieder eine hohe Vielfalt an AM-Verfahren ab. Über 60 nutzen Laserschmelzverfahren, rund 30 Laserauftragsschweißverfahren und bei 20 sind Hybridanlagen im Einsatz. Außerdem nutzen über 50 Mitglieder Lasersinterverfahren. Und in Summe arbeiten hundert Mitglieder mit weiteren Kunststoffverfahren vom Fused Layer Modeling und Arburg Freiformen über das Binder-Jetting und 3D-Printing bis zur Stereolithografie.
Genutzte AM-Technologien unter den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Additive Manufacturing.
Industrielle Anwender brauchen stabile Prozesse
„Diese Vielfalt unserer Mitgliedsunternehmen ist von großem Wert“, betont Gebhardt. Denn im Netzwerk kommen Erfahrungswerte aus dem konkreten, praktischen Umgang mit nahezu der ganzen Bandbreite heute verfügbarer AM-Verfahren mit der Sicht von Anlagenherstellern, Materialentwicklern oder Nachbearbeitungsspezialisten und Automatisierern zusammen. Der Austausch ihrer unterschiedlichen Perspektiven auf die Prozesse ist die Voraussetzung dafür, dass die junge Branche schnell zu einem gemeinsamen Prozessverständnis gelangt. Die Vielfalt der Erfahrungen erlaubt es den Akteuren, technologische Herausforderungen differenziert zu betrachten und dabei die Spezifika verschiedener Werkstoffe, Verfahren und Anwendungen zu berücksichtigen. Damit erarbeiten sie sich eine Basis, um Einzelprozesse Schritt für Schritt zu vernetzen. „Ziel ist die Integration von Additive Manufacturing in die Smart Factory“, sagt Gebhardt.
Der Weg dorthin führt über stabile Einzelprozesse. Softwareentwickler lernen im Austausch mit Anwendern, wo deren Schwierigkeiten liegen. Zum Beispiel Bauteilverzug, der teils so stark ist, dass er in Pulverbettprozessen das Ausbreiten des Pulvers behindert und teils sogar zum Abbruch der Bauprozesse führt. Je offener der Umgang mit solchen Problemen, desto näher liegt die Lösung. In diesem Fall kann Software den Verzug in die ursprünglichen Konstruktionsdaten einrechnen, damit sich das Bauteil im Bauprozess exakt in die gewünschte Geometrie verzieht. Prozesse brechen nicht mehr ab. Nachbearbeitung wird minimiert. Und ein weiterer Schritt in Richtung stabiler industrieller Prozesse ist getan.
Der Perspektivenwechsel der Akteure in der AG AM zeigt Ergebnisse im Großen wie im Kleinen: „Wir haben zum Beispiel eine digitale Bauteilakte erarbeitet“, erklärt Gebhardt. Diese erlaube mit Blick auf die strengen regulatorischen Anforderungen in der Luft- und Raumfahrt äußerst detaillierte Dokumentationen jeglicher Prozessparameter – und wird nun von den Mitgliedern im nächsten Schritt auf den Bedarf ihrer anderen Zielmärkte heruntergebrochen. Die richtigen Experten dafür sind in der Arbeitsgemeinschaft versammelt.
Anwendung der additiven Fertigung unter den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Additive Manufacturing.
Konferenzen, Messeauftritte und erhöhtes politisches Gewicht
Neben dieser praktischen Arbeit erfüllt die Arbeitsgemeinschaft Additive Manufacturing mehr als einen weiteren Zweck für ihre Mitglieder. Als ideeller Träger der Weltleitmesse formnext (19. – 22. November 2019, Frankfurt) trägt sie an zentraler Stelle zur Wahrnehmbarkeit der Technologie und ihrer Potenziale bei. Auf Gemeinschaftsständen und in einer User Case Area können AG-Mitgliedsunternehmen ihre Lösungen präsentieren und genießen dabei Sonderkonditionen. Gerade kleinere und junge Mitgliedsfirmen schätzen diese Möglichkeit.
Daneben ist die AG AM regelmäßig auf der Hannover Messe vertreten. Auch nutzt sie Messen in Russland und Japan, um das führende Know-how ihrer Mitglieder zu präsentieren. Aktuell bereitet das VDMA-Team im Hintergrund zwei Highlights für den Frühsommer 2020 vor. „Wir werden auf der Weltleitmesse der Druck- und Medienbranche, der drupa in Düsseldorf, ein umfangreiches Konferenzprogramm organisieren“, berichtet Gebhardt. Zielgruppen sind dort vor allem Maschinen- und Anlagenbauer aus Druck- und Papiertechnik und Anwender aus dem Medienbereich.
Mit der Fachkonferenz AM4I – Additive Manufacturing for Industry am 26. und 27. Mai 2020 in Ludwigsburg wird die AG AM dagegen interessierte Anwender aus dem Maschinenbau und der Automobilindustrie ansprechen und mit ihren Mitgliedsfirmen zusammenbringen. „Industrielle Anwender brauchen robuste Lösungen, um AM in seriennahe Prozesse integrieren zu können. Genau solche Lösungen treiben unsere Mitglieder voran“, erklärt Gebhardt. Dafür gründen sie Entwicklungsnetzwerke, in denen sie mit Partnern Automatisierungslösungen für spezifische Abschnitte der Prozesskette realisieren. Etwa für den Abschnitt von der Bauteilentnahme und Entpulverung bis zur Übergabe an die Nachbearbeitung. Hier seien automatisierte Lösungen in Sicht, die alle Belange der Materialeffizienz sowie des Arbeits- und Explosionsschutzes erfüllen. „Nach und nach werden solche Lösungen entlang der Prozesskette entstehen – und uns dem Ziel der Additive Smart Factory Stück für Stück näherbringen“, ist der Experte überzeugt.
Politische Akteure einbeziehen
Um auf diesem Weg zielgenaue Unterstützung durch Forschungsförderung und regulatorische Rahmenbedingen zu erreichen, macht sich die Arbeitsgemeinschaft auch auf politischer Ebene bemerkbar. „Wir haben in den letzten Jahren erreicht, dass die Politik Additive Manufacturing als Industrie- und Innovationsthema wahrnimmt“, erklärt Dr. Markus Heering, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Additive Manufacturing. Mit ihren 150 Mitgliedern vom Weltkonzern bis zum innovativen Start-up und ihrer Heimat im VDMA werde die Arbeitsgemeinschaft auf der politischen Bühne als seriöse Branchenvertretung wahrgenommen. „Bei Besuchen in Berlin zeigen sich Politiker aller Parteien sehr interessiert. Und wenn es um konkrete Förderthemen im AM-Bereich geht, sucht die Politik häufig unseren Rat“, berichtet er.
Wie oft im Leben gilt auch hier der Leitsatz: Mehr wirkt mehr. Je mehr Mitglieder, desto größer der Einfluss. Neue Mitglieder mit neuen Perspektiven auf das Additive Manufacturing sind auch deshalb willkommen. Denn je größer die Vielfalt der Akteure, desto marktgerechter und besser durchdacht werden die Lösungen für den industriellen 3D-Druck der Zukunft sein.
formnext Halle 12.0, Stand E48
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