RENA Hirtisieren: Chemisches Ätzen oder Elektrochemischer Abtrag?

Aus materialwissenschaftlicher Sicht ist der einfachste Weg nicht immer der richtige: Mit zunehmender Anzahl an 3D-gedruckten Metallbauteilen nimmt der Zeit- und Kostendruck, der auf den Produzenten AM-gefertigter Bauteile lastet, rasch zu. Oftmals wird über angepasstes Design und geeignete Positionierung der Bauteile auf der Bauplatte versucht, die Menge an notwendigen Stützstrukturen zu reduzieren. Bei den bereits in der Serienfertigung umgesetzten Entwicklungsergebnissen in diese Richtung stellte sich auch heraus, dass oft stützstrukturarme Positionierungen nicht gleichbedeutend der kostengeringsten Variante sind. W.E.G. Hansal, E. Babka

Um die volle Designfreiheit beim metallischen 3D-Drucks nutzen zu können, sind Stützstrukturen unerlässlich. Diese müssen im Zuge des Post-Processing entfernt werden.

Um die volle Designfreiheit beim metallischen 3D-Drucks nutzen zu können, sind Stützstrukturen unerlässlich. Diese müssen im Zuge des Post-Processing entfernt werden.

Als Abhilfe werden vielerorts Kompromisse eingegangen, einige Designideen bleiben dabei auf der Strecke. Dies ist gleichbedeutend einer Einschränkung der Designfreiheit und stellt somit keine nachhaltige Lösung des Problems dar. Die Entfernung der Stützstrukturen bleibt also ein zentrales Thema in der AM-Produktion metallischer Bauteile.

Das chemische Beizen wird industriell vor allem als Vorbehandlung von Beschichtungen eingesetzt.

Das chemische Beizen wird industriell vor allem als Vorbehandlung von Beschichtungen eingesetzt.

Chemisches Ätzen

Das chemische Ätzen erscheint als eine einfache Möglichkeit zur Entfernung von Stützstrukturen, da es billig und breit für alle Materialien verfügbar ist. Doch ist diese Wahl auch weise und zielführend, insbesondere im Vergleich zu dem etwas aufwändigeren elektrochemischen Abtrag? Unter dem Begriff „Ätzen“ werden eine Reihe chemischer (und mitunter elektrochemischer) Verfahren zur Oberflächenbehandlung metallischer Bauteile zusammengefasst. All diesen Verfahren gemein ist eine über den exponierten Bereich weitgehend gleichmäßige Abtragung der Oberflächenschicht des Grundmaterials. Im Gegensatz zum Beizen wird bei einem Ätzprozess jedoch nicht nur eine Deckschicht entfernt, sondern das Material selbst abgetragen (Beizen von Metallen, Rafael Rituper, 1993).

Elektrochemische Prozesse sind strom- oder potentialgeführt und damit besser kontrollierbar als rein chemische Prozesse.

Elektrochemische Prozesse sind strom- oder potentialgeführt und damit besser kontrollierbar als rein chemische Prozesse.

Pro und contra des chemischen Ätzens

Ein großer Vorteil ist der geometrieunabhängige Angriff des Ätzprozesses über die gesamte Bauteiloberfläche, so auch in durch die Ätzlösung erreichbaren Innenräumen. Dieser Vorteil ist jedoch auch gleichzeitig ein entscheidender Nachteil. Ist es das Ziel, Stützstrukturen zu entfernen, so werden bei der Ätzung auch alle anderen Oberflächen des Bauteils angegriffen. Nur eine Änderung des strukturellen Aufbaus (etwa eine geringere Dichte) bewirkt eine beschleunigte Auflösung der Stützstrukturen. Dazu kommt jedoch noch eine weitere, nicht zu vernachlässigende Gefahr: Beiz- und Ätzprozesse sind bekanntermaßen eine Quelle von Wasserstoffversprödung, insbesondere bei einigen Stählen (z. B. hochgehärtete Qualitäten). Das Werkstück ist beim chemischen Ätzen kathodisch polarisiert, als Nebenreaktion entsteht an der Oberfläche Wasserstoff, der ins Metallgitter eingelagert wird und so zu einer Versprödung des Bauteils führt. Gerade bei dynamisch belasteten Bauteilen kann das fatal sein, aus diesem Grund ist gerade bei Einsatz im Aerospace-Bereich eine solche tunlichst im Zuge der Produktionskette auszuschließen.

Dynamische elektrochemische Prozesse entfernen Stützstrukturen zielgerichtet und bauteilschonend.

Dynamische elektrochemische Prozesse entfernen Stützstrukturen zielgerichtet und bauteilschonend.

Folgen der Wasserstoffversprödung

Aus materialwissenschaftlicher Sicht birgt die Wasserstoffversprödung mehrere Risiken. Neben der oben bereits erwähnten Versprödung der Bauteile können sich durch die Einlagerung von Wasserstoff Risse ausbilden. Diese Art der Materialschädigung führt bereits ohne äußere Belastung oder Spannung zur Riss- und Blasenbildung im metallischen Werkstoff und damit zu einer Verschlechterung der mechanischen Kennwerte. Wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion betrifft speziell dynamisch belastete Bauteile, wie sie in der Luftfahrt, aber auch in der Fahrzeugindustrie und im Bahnbereich, eingesetzt werden (Die Korrosion der Metalle, Helmut Kaesche, Springer-Verlag, 2011). Dadurch werden Bauteile derart geschwächt, dass es im Einsatzfall unter dynamischer Belastung zum Bruch des Bauteils kommt. Dieses Phänomen betrifft nicht nur hochfeste Stähle, sondern auch andere hochfeste Leichtmetalllegierungen wie z. B. Titanlegierungen. Solche Legierungen neigen zur wasserstoffinduzierten Rissbildung und Wasserstoffversprödung. Speziell bei Flugtriebwerken wurde beobachtet, dass derartige Sprödbrüche auch erst nach Jahren spontan eintreten können (E-books: Die Sicherheit von Turbo – Flugtriebwerken, Axel Rossmann, Graz University of Technology, 2017).

Die chemische und galvanische Industrie versucht teils mit dem Einsatz von Zusätzen zum Ätzbad (Inhibitoren) oder nachfolgenden Wärmebehandlungen einer Wasserstoffversprödung entgegenzuwirken, jedoch gilt hier der Grundsatz: Vermeidung ist besser als (aufwändige) Beseitigung. Wasserstoffversprödung ist nicht nur in der Luftfahrt ein ernsthaftes Problem, sondern betrifft im Wesentlichen alle Bereiche stark stressbelasteter Metallbauteile. Unzählige Schadensgutachten identifizieren als Ursache des Bauteilversagens immer wieder Wasserstoffversprödung, neben Korrosion ist dabei eine falsche Prozessführung insbesondere auch beim chemischen Ätzen die ursprüngliche Ursache (Wasserstoffversprödung bei galvanischen Prozessen, Jens-Uwe Riedel, ZVO Report, 2/2019).

Elektrochemisches Abtragen

Anders stellt sich der Sachverhalt beim elektrochemischen Abtragen dar. Während einer solchen elektrochemischen Behandlung ist das Werkstück anodisch polarisiert, es wirkt also als Anode. An der Anode entsteht bei einem elektrochemischen Prozess als Nebenprodukt Sauerstoff, welcher meist eine reinigende Wirkung hat, jedoch in keinem Fall zu einer Versprödung führen kann. Die Behandlung ist durch die notwendige Kontaktierung der Bauteile zur Stromzufuhr etwas aufwändiger, eine Wasserstoffversprödung wie beim chemischen Ätzen kann jedoch auf diese Weise ausgeschlossen werden. Über Einsatz dynamischer elektrochemischer Verfahren (Nutzung von gepulstem Strom; Pulse Plating, Wolfgang Hansal & Sudipta Roy, Eugen G. Leuze Verlag, 2012) wie z. B. dem Hirtisieren® kann noch dazu über geeignete Lenkung der Potentialfelder die Auflösung gezielt auf die zu entfernenden Stützstrukturen gelenkt werden. Der Abtrag des eigentlichen Bauteils ist so deutlich reduziert. Ein weiterer Vorteil einer stromgeführten elektrochemischen Auflösung ist die wesentlich kürzere Bearbeitungszeit, welche vor allem von der angelegten Stromstärke bestimmt wird. Selbst beim Reinigen oder Entstützen von Innenräumen, wo auch Verfahren wie das oben genannte Hirtisieren® auf einen Mix aus chemischen und elektrochemischen Abtrag setzen, schützt die anodische Polarisation das Bauteil effizient und sicher vor jeglicher Wasserstoffversprödung.

Fazit

Im Vergleich der Verfahren mag bei einer oberflächlichen ökonomischen Betrachtung einer simplen Oberflächenbehandlung der Vorzug gegeben werden. Entscheidend jedoch, gerade bei hochwertigen 3D-gedruckten Bauteilen, ist der unbedingte Erhalt der mechanischen Eigenschaften der fertigen Produkte. Gerade bei Komponenten aus Luft- Und Raumfahrt sowie bei allen dynamisch belasteten Bauteilen ist hier absolute Vorsicht bei der Wahl des Postprocessing geboten. Ein rein chemischer Ätzprozess des Bauteils stellt in der Anwendung über die Gefahr der Wasserstoffversprödung ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Hier sind klar höherwertige Bearbeitungsschritte vorzuziehen. Elektrochemische Verfahren polarisieren bei der Auflösung von Stützstrukturen das Bauteil anodisch und stellen somit einen effizienten Schutz der Bauteile vor Wasserstoffversprödung sicher. Ein Einsatz dynamischer Verfahren (wie z. B. das Hirtisieren®) lenkt zusätzlich den Strom speziell an die zu entfernenden Stützstrukturen und wirkt somit mit seiner hohen Selektivität besonders bauteilschonend.

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